Eine geistesgeschichtliche Kontinuität von Romantik und Analytischer Psychologie
C. G. Jungs Analytische Psychologie steht in einer geistesgeschichtlichen Kontinuität mit der deutschen Frühromantik und insbesondere mit der transzendentalphilosophischen Position Friedrich Schlegels. Auch wenn Jung Schlegel kaum direkt rezipierte, lassen sich deutliche strukturelle, methodische und symbolische Parallelen feststellen, die auf einen gemeinsamen Ursprung im Denken der idealistischen Subjektphilosophie verweisen.
1. Transzendentale Struktur: Das Selbst als dynamische Einheit
Schlegels Philosophie wurzelt in Fichtes Wissenschaftslehre, deren zentrales Motiv die Selbstsetzung des Ich ist. Dieses Ich ist nicht statisch, sondern ein fortwährender Prozess der Selbstbewusstwerdung:
„Das Ich ist zugleich das Setzende und das Gesetzte.“¹
Schlegel transformiert diesen transzendentalen Idealismus in eine poetisch-religiöse Form. Seine progressive Universalpoesie begreift das Absolute als unendlichen Selbstoffenbarungsprozess des Geistes, der sich in Kunst, Philosophie und Religion ausdrückt.²
Jungs Konzept der Individuation zeigt eine analoge Struktur. Das Selbst wird bei ihm nicht als gegebene Substanz, sondern als emergente Ganzheit verstanden, die aus der Dialektik zwischen Bewusstem und Unbewusstem hervorgeht:
„Individuation ist der Prozess, durch den ein Mensch das wird, was er an sich ist.“³
Beide Ansätze verstehen das „Ich“ als Durchgangsform einer umfassenderen, sich selbst reflektierenden Ganzheit. In dieser Hinsicht kann die jungianische Psychologie als psychologische Transformation der romantischen Transzendentalphilosophie interpretiert werden.⁴
2. Methodische Parallelen: Dialektik und Offenheit des Symbols
Schlegels Methode ist von der romantischen Ironie und Dialektik bestimmt. Jede Erkenntnis bleibt vorläufig, jedes System muss offen bleiben, um der Bewegung des Geistes zu entsprechen.⁵
Diese Idee einer „progressiven Annäherung“ an das Absolute wird bei Jung zur methodischen Grundlage seiner Symbolhermeneutik. In Psychologie und Alchemie beschreibt er das Symbol als Ausdruck eines noch unbewussten Sinnzusammenhangs:
„Das Symbol ist das beste mögliche Ausdrucksmittel für etwas, das sich noch nicht völlig erkannt hat.“⁶
Diese Formulierung ist fast wörtlich die psychologische Entsprechung von Schlegels Diktum:
„Die Poesie ist zugleich Wissenschaft und Kunst, Religion und Philosophie.“⁷
Beide verstehen die symbolische oder poetische Form als notwendige Vermittlung zwischen rationaler Reflexion und intuitiver Ganzheitserfahrung.
3. Mythos und Selbstreflexion des Geistes
Für Schlegel war der Mythos keine primitive Erzählung, sondern eine Form der Selbsterkenntnis des Absoluten in Bildern.⁸
Diese Auffassung findet ihre direkte Fortsetzung in Jungs Deutung von Mythen, Alchemie und Religion als Projektionen psychischer Archetypen.
Wie Schlegel sieht Jung im Mythos die „Sprache des Unbewussten“ – die Form, in der sich das Ganze des Geistes symbolisch mitteilt.⁹
Damit wird Jung zum Hermeneutiker der romantischen Idee: was bei Schlegel als religiös-poetische Transzendenz erscheint, wird bei Jung zu einer psychologischen Immanenz der Seele.
4. Fazit
Jungs Psychologie kann als Fortführung der Schlegelschen Transzendentalphilosophie im Medium der Tiefenpsychologie gelten.
Beide Systeme teilen den Gedanken einer dynamischen Selbsterkenntnis, die sich in der Spannung der Gegensätze vollzieht – Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Unbewusstes, Kunst und Wissenschaft.
So steht Jung in der Linie einer romantischen Anthropologie, in der das „Absolute“ nicht jenseits, sondern im Prozess der seelischen Selbstwerdung erfahrbar wird.
Literaturverzeichnis
- Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). Hamburg: Meiner, 1984.
- Friedrich Schlegel: Athenaeum-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. München: Schöningh, 1967.
- C. G. Jung: Psychologische Typen. In: Gesammelte Werke, Bd. 6. Zürich: Rascher, 1921/1971.
- Manfred Frank: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997.
- Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Athenäum, 1798.
- C. G. Jung: Psychologie und Alchemie. In: Gesammelte Werke, Bd. 12. Zürich: Rascher, 1944/1972.
- Ernst Cassirer: Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1. Berlin: Bruno Cassirer, 1923.
- Dieter Henrich: Der Grund im Bewusstsein. Stuttgart: Klett-Cotta, 1992.
- Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973.