Die Göttin als Sonne und der Gott als Strahl – Ein vergessener europäischer Archetyp

Ein oft übersehener Befund der europäischen Mythologie – besonders im nordischen und germanischen Kulturraum – ist die Vorstellung einer weiblichen Sonne. Während in den meisten indoeuropäischen Traditionen die Sonne männlich und der Mond weiblich erscheint, zeigt sich im Norden eine markante Umkehrung der Rollen.
Diese Perspektive harmonisiert überraschend gut mit einer hermetisch-pansophischen Deutung des Wicca, wenn man die Gottheiten als Pole und Kräfte versteht und nicht als starre Geschlechtswesen.

1. Die Sonne im Norden: Ein weiblicher Archetyp

In der nordischen Mythologie heißt die Sonne Sól / Sunna, eindeutig weiblich. Ihr Wagen wird von den Pferden Árvakr und Alsviðr gezogen, und sie wird von einem Wolf verfolgt, der sie zur Ragnarök verschlingen wird.

Was bedeutet das symbolisch?

  • Die Sonne ist lebensspendend, hütend, warm, ernährend – Eigenschaften, die kulturell oft dem Weiblichen zugeschrieben werden.
  • Das Licht wird nicht als ein aktives, männliches Prinzip verstanden, sondern als die strahlende Natur der Göttin selbst.
  • Die Welt wird durch die weibliche Sonne gehalten, nicht durch einen männlichen Sonnengott bestrahlt.

Diese Sichtweise eröffnet ein alternatives Modell der kosmischen Polarität, das für das Wicca-Projekt besonders wertvoll ist, da es unabhängig von modernen Genderprojektionen die Vielfalt europäischer Symbolsysteme ernst nimmt.


2. Der Gott als Strahl, Speer und Stab: Das männliche Prinzip der Ausrichtung

Während die Sonne im Norden weiblich ist, erhält das männliche Prinzip seine ikonische Darstellung nicht durch die Sonne selbst, sondern durch ihre Strahlen.

Diese Strahlen werden in der Mythologie und Ikonographie oft als:

  • Speer,
  • Lanze,
  • Stab,
  • oder Pfeil

symbolisiert.

Das ist mehr als bloße Waffensymbolik:
Der Speer repräsentiert gerichtete Kraft, Vordringen, Durchdringen, Aktivierung – ein archetypisches Yang-Prinzip.

Damit entsteht eine polare Struktur:

  • Göttin = die Sonne selbst, der Ursprung, das Zentrum, die Quelle der Lebenskraft
  • Gott = der Strahl, die gerichtete Manifestation, die sich ausdehnt und wirkt

Diese Polarität passt hervorragend zu den hermetischen Korrespondenzen:

HermetikGöttinGott
EinheitsprinzipZentrales FeuerAusströmung des Feuers
AlchemieLuna (Gefäß)Sol (Strahl/Sulfur)
KabbalaBinah (Formfeld)Chokmah (Energiepfeil)

Doch im nordeuropäischen Modell verschiebt sich die Zuordnung: die Sonne ist weiblich, so dass „Luna/Sol“ nicht mit „weiblich/männlich“ identisch ist.
Das macht die europäische Symbolik erstaunlich fluid und differenziert.


3. Wicca-Religionsphilosophie: Eine Integration der Sonnen-Göttin

Wenn Wicca nicht als künstliches modernes System, sondern als rekonstruierte archetypische Kosmologie verstanden wird, ergibt die nordeuropäische Sonnen-Göttin einen wichtigen Baustein:

  • Die Göttin kann als Sonnenzentrum verstanden werden – als Strahlungsquelle, die den Jahreskreis regiert.
  • Der Gott verkörpert die Dynamik, die sich aus ihr entfaltet: Wachstum, Hitze, Bewegung, Fruchtbarkeit.

Daraus ergibt sich eine subtile Dualität:

  • Göttin = Ursprung / Quelle / Zentrum / Fülle
  • Gott = Bewegung / Richtung / Expansion / Handlung

Das ist exakt die Polarität, die auch das Yin–Yang-Modell beschreibt, aber mit einer entscheidenden Verschiebung:
Yin ist nicht „dunkel und Mond“, sondern kann in einer europäischen Tradition auch „die Sonne selbst als Grundkraft“ sein.

Damit wird Wicca universeller, weniger an biologische Geschlechter gebunden und stärker an kosmische Funktionen gebunden.


4. Die Symbolik von Speer und Stab: Der Gott als kosmischer Vektor

In vielen Kulturen ist der Speer ein Sonnensymbol:

  • In der keltischen Mythologie gilt der Speer des Lugh als Strahl der Inspiration.
  • In der germanischen Tradition ist der Speer Odins (Gungnir) die Achse des Willens.
  • Der Stab des Druiden symbolisiert gerichtetes Wissen.
  • Der phallische Stab im Ritual ist weniger sexueller Fetisch als vielmehr Symbol des ausstrahlenden Prinzips.

Damit wird klar:

Der Gott repräsentiert nicht „die Sonne“, sondern die Art und Weise, wie die Sonnenkraft im Kosmos wirkt.

Diese Unterscheidung ist wichtig für eine philosophische Lektüre des Wicca.


5. Pansophie: Die Ausdifferenzierung von Zentrum und Strahl

Pansophische Systeme (Oetinger, Boehme, Schlegel, Novalis) kennen eine ähnliche Struktur:

  • Der göttliche Grund (Ungrund) → Zentrum / Mutterprinzip
  • Die ewige Ausstrahlung (Emanation) → Strahl / Vaterprinzip

Das passt exakt zum Modell:

  • Göttin = der “Ungrund der Wärme”
  • Gott = der Vektor, der aus dem Ungrund hervortritt

So wird der Jahreskreis zu einem pansophischen Drama:

  • Die Göttin hält den Raum (Sonne).
  • Der Gott entfaltet die Kräfte im Raum (Strahl).

6. Fazit: Eine europäische, hermetische und pansophische Neuinterpretation

Die weibliche Sonne des Nordens erlaubt eine tiefergehende, nicht-stereotype Deutung der wiccanischen Gottheiten:

  • Die Göttin ist Zentrum, Sonne, Quelle.
  • Der Gott ist Strahl, Speer, Vektor.

Beide sind kosmische Funktionen, keine biologischen Zuschreibungen.
Sie entsprechen Yin und Yang, aber in europäischer Variation.

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