Von Fichtes Transzendentalphilosophie zur Quantenphysik und Analytischen Psychologie C. G. Jungs
Einleitung
Die neuzeitliche Philosophie ist von einer fundamentalen Frage durchzogen: Wie verhält sich das erkennende Subjekt zur Welt, die es erkennt? Seit Descartes wurde das Verhältnis von res cogitans und res extensa – Geist und Materie – als Dualismus gedacht.
Mit Johann Gottlieb Fichte und der Frühromantik, insbesondere mit Friedrich Schlegel, entstand um 1800 eine neue Perspektive: das Bewusstsein ist nicht isolierter Beobachter, sondern schöpferischer Miturheber der Welt. Der Satz „Das Ich ist zugleich das Setzende und das Gesetzte“ formuliert einen revolutionären Gedanken – die Einsicht, dass Erkenntnis ein aktiver, konstitutiver Prozess ist.
Bemerkenswerterweise finden sich ähnliche Strukturen in zwei scheinbar weit entfernten Feldern: in der Quantenphysik des 20. Jahrhunderts und in C. G. Jungs Analytischer Psychologie. Beide brechen mit der Vorstellung einer objektiv gegebenen, vom Bewusstsein unabhängigen Welt.
1. Fichtes transzendentale Selbstsetzung
Fichtes Wissenschaftslehre (1794/95) versteht das Ich als ursprüngliche Tathandlung:
„Das Ich setzt schlechthin sein eigenes Sein.“¹
Das bedeutet, das Ich ist nicht ein vorgegebenes Subjekt, sondern eine Aktivität, die sich selbst hervorbringt, indem sie sich gegen das Nicht-Ich abgrenzt.
Erkenntnis entsteht nicht durch Abbilden, sondern durch Setzung – das Ich schafft die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung selbst.
Dieses Verhältnis ist dialektisch: Das Ich kann sich nur als frei begreifen, wenn es zugleich eine Grenze erfährt – das Nicht-Ich. In diesem Spannungsfeld konstituiert sich Bewusstsein. Damit hebt Fichte den Dualismus von Subjekt und Objekt auf und ersetzt ihn durch ein relationales, schöpferisches System.
2. Schlegels poetische Transformation
Friedrich Schlegel überträgt Fichtes Gedankengang in den Bereich der Ästhetik und Religion.
In seinen Athenaeum-Fragmenten schreibt er:
„Die Poesie ist zugleich Wissenschaft und Kunst, Religion und Philosophie.“²
Für Schlegel ist das Absolute kein fixiertes Prinzip, sondern ein unendlicher Prozess der Selbstoffenbarung.
Das Bewusstsein erkennt sich in seinen eigenen symbolischen Hervorbringungen – in Kunst, Mythos und Ironie.
Das Ich wird damit poetisch-transzendental: Es schafft Welt, indem es sie deutet.
Diese Bewegung ist unabschließbar – eine „progressive Universalpoesie“, ein nie endender Akt der Selbstreflexion des Geistes.³
3. Der Beobachter in der Quantenphysik
Mit der Entstehung der Quantenmechanik um 1900 verschiebt sich auch in der Physik das Verhältnis von Subjekt und Objekt.
Die Heisenbergsche Unschärferelation zeigt, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht unabhängig vom Messakt bestimmbar sind.
Niels Bohr formulierte dies als Komplementaritätsprinzip:
„Es ist falsch zu glauben, dass der Beobachter von dem, was er beobachtet, getrennt werden kann.“⁴
Die Messung wird selbst Teil des physikalischen Ereignisses. Realität erscheint nicht mehr als unabhängig von Beobachtung, sondern als Resultat eines Wechselspiels zwischen System und Bewusstsein.
Damit erhält Fichtes Gedanke der Selbstsetzung – das Subjekt konstituiert seine Erfahrungswelt – eine physikalische Entsprechung.
John Archibald Wheeler fasste diese Entwicklung in der Formel des participatory universe zusammen:
„Wir leben in einem Universum, das durch unsere Beobachtungen an seiner eigenen Entstehung teilhat.“⁵
Der Beobachter wird hier zum Mit-Schöpfer der Realität – ein naturwissenschaftliches Echo des transzendentalen Idealismus.
4. C. G. Jung: Psyche, Symbol und Komplementarität
C. G. Jung überträgt diese Struktur auf die Psychologie.
In seinem Individuationskonzept ist das Selbst nicht gegeben, sondern ein Prozess, der sich durch die Integration von Bewusstem und Unbewusstem vollzieht:
„Individuation ist der Prozess, durch den ein Mensch das wird, was er an sich ist.“⁶
Wie bei Fichte entsteht Identität erst in der Spannung der Gegensätze.
Jung sah in der Alchemie und im Mythos Bilder dieses Prozesses. Die Symbole sind dabei keine bloßen Metaphern, sondern Formen der Selbstoffenbarung der Psyche – analog zu Schlegels poetischem Prinzip.⁷
In der Zusammenarbeit mit dem Physiker Wolfgang Pauli entwickelte Jung die Theorie der Synchronizität: bedeutungsvolle Zufälle, die Psyche und Materie verbinden.⁸
Beide Autoren vermuteten eine tiefere Ebene – den Unus Mundus –, in der psychische und physikalische Phänomene komplementäre Manifestationen derselben Ganzheit sind.
Dies entspricht einer modernen Variante der transzendentalen Idee: die Einheit von Bewusstsein und Welt.
5. Strukturelle Vergleichung
Kategorie | Transzendentalphilosophie (Fichte/Schlegel) | Quantenphysik (Bohr/Heisenberg/Wheeler) | Analytische Psychologie (Jung/Pauli) |
---|---|---|---|
Grundgedanke | Das Ich setzt sich selbst und das Nicht-Ich | Beobachtung beeinflusst Systemzustand | Psyche und Materie als komplementär |
Erkenntnisform | Dialektische Selbstreflexion | Komplementarität und Wahrscheinlichkeitsfeld | Symbolische Selbstwerdung |
Verhältnis Subjekt–Objekt | Polar-dynamisch, gegenseitig konstituiert | Beobachterabhängigkeit | Bewusstes–Unbewusstes als Einheit |
Ontologische Struktur | Prozess der Selbstsetzung | Partizipatives Universum | Unus Mundus (Ganzheit) |
6. Fazit
Die Formel „Das Ich ist zugleich das Setzende und das Gesetzte“ markiert eine erkenntnistheoretische Wende, deren Nachwirkungen bis in die moderne Wissenschaft und Psychologie reichen.
Fichte formulierte sie als transzendentale Struktur des Bewusstseins, Schlegel als poetische Selbstoffenbarung, Jung als psychologische Individuation, und die Quantenphysik als Beobachterabhängigkeit.
In allen Fällen wird der klassische Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben zugunsten eines Beziehungsfeldes, in dem Erkenntnis, Erfahrung und Welt ko-kreativ entstehen.
So erscheint die transzendentale Philosophie der Frühromantik nicht als überholt, sondern als vorausweisend – sie antizipiert eine Wirklichkeitsauffassung, in der Bewusstsein und Natur nicht getrennt, sondern aspekte eines gemeinsamen schöpferischen Prozesses sind.
Literaturverzeichnis
- Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). Hamburg: Meiner, 1984.
- Friedrich Schlegel: Athenaeum-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. München: Schöningh, 1967.
- Manfred Frank: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997.
- Niels Bohr: Atomic Physics and Human Knowledge. New York: Wiley, 1958.
- John A. Wheeler: Law without Law. In: Quantum Theory and Measurement. Princeton: Princeton University Press, 1983.
- C. G. Jung: Psychologische Typen. In: Gesammelte Werke, Bd. 6. Zürich: Rascher, 1921/1971.
- C. G. Jung: Psychologie und Alchemie. In: Gesammelte Werke, Bd. 12. Zürich: Rascher, 1944/1972.
- C. G. Jung / Wolfgang Pauli: Naturerklärung und Psyche. Zürich: Rascher, 1952.