Wicca im schlegelschen Sinn und die Idee der Pansophie

1. Einleitung

Das Verhältnis von Romantik, Esoterik und moderner Spiritualität ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer fortdauernden pansophischen Bewegung des Geistes. In der Gestalt des Wicca als naturreligiöser Praxis und in Friedrich Schlegels transzendentalphilosophischem Denken begegnen sich zwei Formen derselben Sehnsucht: die nach Einheit von Wissen, Natur und Geist.
Während Schlegel die Philosophie als „lebendige Poesie des Absoluten“ versteht, verwirklicht Wicca diese Idee als rituellen Vollzug des Göttlichen im Alltäglichen.


2. Schlegels romantische Transzendentalphilosophie

Friedrich Schlegel (1772–1829) begriff Philosophie als eine „unendliche Annäherung“ an das Absolute – ein niemals abgeschlossener Prozess geistiger Selbstreflexion.
Im Athenäums-Fragment 125 formuliert er:

„Die Philosophie soll nicht bloß Wahrheit denken, sondern sie leben.“

Diese dynamische, schöpferische Haltung hebt die Trennung von Denken, Dichtung und Religion auf. Das Göttliche ist kein dogmatisch fixierter Gott, sondern ein inneres Prinzip der Produktivität. Das „Gewimmel der Götter“ im Pantheon spiegelt das Gewimmel der Seele: eine Vielheit, die auf das Eine hin zielt.


3. Wicca als neoromantische Praxis

Das Wicca-Verständnis von Göttin und Gott als Immanenzen der Natur setzt genau hier an.
In der Praxis – Ritual, Jahreskreis, Magie – vollzieht sich die romantische Bewegung vom Endlichen zum Unendlichen.
Die „Hexe“ im ursprünglichen Sinn ist kein dogmatischer Gläubiger, sondern ein poetisch Handelnder: Sie verwandelt Welt in Symbol, Natur in Bedeutung.
Der Kreis, die Elemente, die Polarität sind Manifestationen jener „progressiven Universalpoesie“, die Schlegel in der Philosophie forderte.

„In jedem endlichen Geist wohnt die Sehnsucht nach dem Unendlichen – das ist die Religion der Romantik.“
(Schlegel, Gespräch über die Poesie, 1800)


4. Pansophie – Einheit des Wissens

Die pansophische Idee, wie sie bei Jakob Böhme und Johann Amos Comenius erscheint, beschreibt die Allverbundenheit allen Wissens.
Sie will die Kluft zwischen Wissenschaft, Religion und Kunst überwinden.
Schlegel führt diese Idee in die Moderne über: Philosophie, Poesie und Mystik werden zu einem einzigen Erkenntnisorganismus.
Diese Einheit ist kein Besitz, sondern ein Werden – ein Kreislauf, wie er in der wiccanischen Kosmologie kultisch vollzogen wird.


5. Frederic Lamont: „Religious Without Believing“

Frederic Lamont (2019) beschreibt in Religious Without Believing eine posttheistische Religiosität, in der rituelles, symbolisches und ästhetisches Erleben die Rolle des Glaubens übernimmt.
Religion wird so nicht als System von Dogmen, sondern als poetische Praxis der Selbsttranszendenz verstanden.

Lamont schreibt:

„Religiosity today may persist without belief because meaning itself has become ritualized.“
(Lamont, Religious Without Believing, Routledge 2019, S. 87)

Diese Perspektive beleuchtet Wicca als romantische Wiederkehr einer Religion ohne Dogma, einer Religion der Einbildungskraft, die dem Menschen erlaubt, „im Symbol zu wohnen“.
Damit schließt sich der Kreis zu Schlegels Programm:
Beide verorten das Heilige im Prozess des Erlebens, nicht in der metaphysischen Behauptung.


6. Jung, Alchemie und pansophische Psychologie

C. G. Jung griff diese Denkweise auf, indem er die Alchemie als „symbolische Sprache der Individuation“ deutete.
So wie Schlegel das Absolute als Werden des Geistes verstand, deutet Jung die Individuation als Entfaltung der göttlichen Totalität im Selbst.
Wicca, in seiner rituell-symbolischen Praxis, aktualisiert dieses Prinzip: Die Arbeit im Kreis wird zur pansophischen Handlung – zur bewussten Integration von Bewusstem und Unbewusstem, Natur und Geist.


7. Schluss: Wicca als pansophische Romantik

Wicca kann im schlegelschen Sinn als lebendige Pansophie verstanden werden – eine Religion ohne Dogma, aber mit innerer Notwendigkeit.
Sie ist eine „praktische Universalpoesie“, in der Natur, Mythos, Psychologie und Wissenschaft zusammenfließen.
Wo Schlegel philosophisch dachte, lebt Wicca die Philosophie aus.
Beide teilen denselben Kern: das Streben nach Einheit im Vielerlei.


8. Quellen und Literatur

Primärquellen:

  • Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente (1798–1800)
  • Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie (1800)
  • Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang (1612)
  • Johann A. Comenius: Pansophiae Prodromus (1637)
  • Gerald Gardner: Witchcraft Today (1954)
  • Doreen Valiente: The Rebirth of Witchcraft (1989)

Sekundärquellen:

  • Manfred Frank: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der romantischen Theorie (1982)
  • Antoine Faivre: Access to Western Esotericism (1994)
  • Wouter J. Hanegraaff: Esotericism and the Academy (2012)
  • Vivianne Crowley: Wicca: A Comprehensive Guide to the Old Religion in the Modern World (2003)
  • Frederic Lamont: Religious Without Believing (Routledge, 2019)

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