Merlin und die romantische Wissenschaft – Von Friedrich Schlegel bis zur modernen Physik

Ein Essay über die Wiederkehr des magischen Forschers


Die Wiederentdeckung des Zauberers im Denken

Friedrich Schlegel sah in Merlin weit mehr als eine Gestalt der keltischen Sagenwelt. Für ihn war der Zauberer ein Symbol des neuen, romantischen Wissenden – ein mystischer Wissenschaftler, der Ekstase und Erkenntnis, Intuition und Ratio in sich vereinte. Merlin verkörpert jene Synthese, die Schlegel als das Ziel einer „progressiven Universalpoesie“ verstand: das Denken als schöpferischen, poetischen Akt.

In den Athenäums-Fragmenten forderte Schlegel, dass sich „Philosophie der Poesie annähert, und Poesie philosophisch wird“¹ – eine programmatische Durchdringung der Gegensätze, die den Grundton der Frühromantik bildet. Merlins Wissen ist kein Produkt der Analyse, sondern eine Offenbarung im Zustand der Begeisterung: er schaut, was er weiß.


Zwischen Dionysos und Apoll – die Gestalt des ekstatischen Forschers

In Schlegels Denken verschmilzt der Magier mit dem Wissenschaftler. Merlin wird zum Archetyp des Forschers, der die Natur nicht nur beobachtet, sondern in ihr lebt, mit ihr in einen schöpferischen Dialog tritt.
Diese Idee war für die Romantik revolutionär: Der Mensch erkennt die Welt nicht, indem er sie seziert, sondern indem er sich in sie hineinversetzt.

Novalis formulierte denselben Gedanken poetisch: „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – das Trieb, überall zu Hause zu sein.“² Erkenntnis bedeutet Heimkehr – nicht Distanz.

Goethe, Schlegels älterer Zeitgenosse, suchte dasselbe Ziel auf alchemistischem Wege: ein „Anschauen der Idee“³, in dem sich Ratio und Intuition durchdringen. Sein Faust wird so zum „alten Merlin“, zum alchemistischen Forscher, der im „Ewig-Weiblichen“⁴ das Urbild einer schöpferischen, ganzheitlichen Erkenntnis erblickt.


Der romantische Impuls in der modernen Wissenschaft

Das romantische Erkenntnismodell blieb nicht ohne Nachwirkung. Der moderne Wissenschaftler, der in Momenten der Intuition, der Naturerfahrung oder gar der Trance zu neuen Einsichten gelangt, folgt unbewusst demselben mythischen Pfad.

Wenn ein Physiker – wie Kary Mullis, Nobelpreisträger und Entdecker der PCR-Methode – erzählt, dass die entscheidende Idee ihm auf einem Hikingtrip in die Natur unter dem Einfluss von LSD kam⁵, dann klingt darin die alte Stimme Merlins wieder: das Wissen als Vision, die Ordnung des Kosmos als ekstatische Schau.

In der Quantenphysik, in der Tiefenpsychologie und in der Bewusstseinsforschung kehrt dieses Motiv vielfach zurück. David Bohm sprach von einer „impliziten Ordnung“ der Welt, in der alles mit allem verbunden ist⁶; Richard Feynman sagte: „Natur verstehen heißt, mit ihr tanzen zu lernen“⁷. Beides sind moderne Umschreibungen des romantischen Traums von der Einheit.


Golowin und die Wiederkehr des Magiers

Der Schweizer Mythologe und Autor Sergius Golowin erkannte in der Gestalt Merlins den Archetyp eines Wissens, das sich nie auf bloße Technik beschränkt. Für Golowin war der Magier „der Zauberer, der Wissenschaft und Mythos in einer schöpferischen Einheit versöhnt“⁸ – eine Figur, die in einer ökologisch und spirituell erneuerten Kultur wieder Bedeutung gewinnen könnte.

So schließt sich der Kreis: Vom romantischen Merlin Schlegels über Goethes Faust bis hin zu modernen Naturwissenschaftlern spannt sich eine Linie der „magischen Erkenntnis“ – der Versuch, Denken und Leben, Geist und Natur, Wissenschaft und Poesie zu vereinen.


Schluss: Das Erbe Merlins

Der romantische Merlin lebt fort – nicht im Mythos, sondern im Menschen, der in Momenten der Klarheit und Ekstase erkennt, dass Wissen mehr ist als Analyse.
Schlegels Idee eines „philosophischen Zauberers“ ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der Technologie und Bewusstsein auseinanderzudriften scheinen, erinnert uns Merlin daran, dass wahre Erkenntnis aus der Einheit von Ratio und Intuition, Wissenschaft und Seele entspringt.


Anmerkungen

  1. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, Nr. 116, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, München 1958, S. 198.
  2. Novalis: Blüthenstaub, in: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn, Bd. 2, Stuttgart 1960, S. 413.
  3. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 509.
  4. Goethe: Faust II, Vers 12110: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“
  5. Kary Mullis: Dancing Naked in the Mind Field, New York 1998, S. 56.
  6. David Bohm: Wholeness and the Implicate Order, London 1980, S. 14–17.
  7. Richard P. Feynman: The Character of Physical Law, Cambridge (MA) 1965, S. 172.
  8. Sergius Golowin: Magie der Erde. Zauber und Geheimnis der Naturkräfte, München 1974, S. 89.

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