1. Einleitung

Die deutsche Romantik steht am Übergang zwischen Aufklärung und Moderne – einer Epoche, in der sich die Grenzen zwischen Religion, Kunst und Esoterik durchlässig gestalten. Innerhalb dieser Bewegung entsteht ein neues Verhältnis zum Mythos, zur Magie und zur Idee des poetischen Wissens. Friedrich Schlegels Vorstellung einer „neuen Religion der Poesie“ bildet dabei einen geistigen Kristallisationspunkt. In dieser Vision verbinden sich dichterische Inspiration, religiöse Erfahrung und philosophische Erkenntnis zu einer neuen Form der geistigen Ganzheit.

In diesem Kontext gewinnt die Figur Merlins, des mythischen Magiers aus der Artusüberlieferung, eine zentrale Symbolbedeutung. Merlin erscheint den Romantikern als Vermittler zwischen Natur und Geist, als Archetyp des „poetischen Weisen“ und als Vorbild einer neuen Priesterschaft des Geistes. Parallel dazu findet bei Goethe – besonders in Faust I und Faust II – eine Neubestimmung des Magiers statt, in der alchemistische, rosenkreuzerische und hermetische Motive ineinander übergehen.

Diese Arbeit untersucht die Zusammenhänge zwischen Schlegels neuer Religion, der romantischen Merlin-Ikonographie, Goethes Rosenkreuzertum und der in Faust dargestellten hexischen Gegenreligion mit ihrem Rückbezug auf die „Urmütter“. Abschließend wird eine Linie zur modernen okkulten Rezeption gezogen – insbesondere zu den in Michael Howards Children of Cain (2011) beschriebenen „Old Craft“-Traditionen, und – ergänzend – zu Sergius Golowin, der als moderner Erbe der romantischen Esoterik gelten kann.


2. Friedrich Schlegels „neue Religion“ und das romantische Merlin-Bild

Friedrich Schlegel formuliert in den Athenäumsfragmenten (1798–1800) die Idee einer „neuen Mythologie“, die zugleich eine neue Religion der Poesie sein soll. „Alle Religion wird Poesie, alle Poesie Religion“[1], heißt es dort programmatisch. Diese „neue Religion“ erhebt die schöpferische Einbildungskraft zum Ort der Offenbarung. Die Poesie soll die Funktion übernehmen, die in der Antike der Mythos und im Christentum die Offenbarung hatte: Vermittlung des Göttlichen im Symbolischen.

Innerhalb dieses Denkrahmens erscheint die Gestalt Merlins als idealtypische Figur des romantischen Sehers. Während die Aufklärung den Magier als Betrüger oder Relikt des Aberglaubens verwarf, deutet die Romantik ihn um in eine poetisch-spirituelle Gestalt: der Magier als derjenige, der das Unsichtbare in Sprache verwandelt.

In Schlegels poetologischen Schriften, aber auch in der Rezeption seiner Zeit (etwa Novalis’ Heinrich von Ofterdingen), wird der Dichter zum „Priester der Natur“. Merlin ist das mythische Sinnbild dieses Typus. Er vereint, was die Romantiker zu vereinen suchten: Naturwissen und Inspiration, Einsamkeit und Heiligkeit, Rationalität und Ekstase.

Die „neue Religion“ ist damit keine institutionelle Religion, sondern eine ästhetische Theurgie – eine Vergeistigung des Magischen. Merlin wird zum Vorläufer dieses romantischen Dichter-Priesters: weise, von der Welt verstoßen, aber im Besitz eines höheren Wissens, das aus der Natur selbst stammt.

[1] Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, Nr. 116, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, München 1958, S. 182.


3. Merlin-Ikonographie und die Wiederkehr des Magiers in der Romantik

Die Romantik bewirkt eine Wiederbelebung des mythischen Magiermotivs. Im 18. Jahrhundert verschwindet Merlin weitgehend aus der europäischen Ikonographie; erst im frühen 19. Jahrhundert erlebt er eine neue Blüte – in Malerei, Literatur und Musik.

Diese Wiederkehr steht im Zusammenhang mit der romantischen Aufwertung des „Geheimnisvollen“. Der Magier wird nicht mehr als Feind der Religion, sondern als deren ursprünglicher Träger verstanden. In der deutschen Kunst zeigen etwa die Illustrationen Moritz von Schwinds und die mythologischen Dichtungen Tiecks und Brentanos eine Tendenz, den Magier als Symbol einer kosmischen Einheit von Geist und Natur zu inszenieren.

Der Merlin der Romantik ist damit ein Urbild des schöpferischen Individuums, das sich gegen dogmatische Institutionen stellt. Er trägt Züge des alchemistischen Adepten ebenso wie des christlichen Eremiten. Diese Verschmelzung von Esoterik und Dichtung bereitet den Boden für Goethes Selbstverständnis als „alter Magier“ oder – wie Zeitgenossen formulierten – „deutscher Merlin“.


4. Goethe als „alter Merlin“ – poetische Theurgie und Rosenkreuzertum

Goethe gilt in der esoterischen Deutung der Romantik als „alter Merlin“, als der Weise, der das Geheimnis der Natur durch kontemplatives Erkennen erschließt. Seine Beschäftigung mit Alchemie, Naturmystik und Hermetik ist gut dokumentiert. In Briefen und naturwissenschaftlichen Schriften bezieht er sich auf Paracelsus, Basilius Valentinus und Jakob Böhme.

Zentral ist dabei das Prinzip der Wandlung – ein rosenkreuzerisches Grundmotiv. Die Rose, Symbol der Entfaltung des Göttlichen im Innern, und das Kreuz, Zeichen der Inkarnation und des Leidens, bilden zusammen das Sinnbild des alchemischen Prozesses der „coniunctio oppositorum“. Goethes Gedicht Die Geheimnisse (1784/85) ist in seiner Symbolik kaum anders denn als rosenkreuzerisches Lehrgedicht zu verstehen[2].

In Faust verdichtet sich diese Symbolik zu einer umfassenden Poetik der Initiation. Faust ist nicht bloß ein Sünder oder Wissenschaftler, sondern ein Adept, der durch Erfahrung und Schuld hindurch zum Wissen gelangt. Wie der Merlin der Romantik, so steht auch er „zwischen den Welten“: zwischen Rationalismus und Mystik, Kirche und Natur, Geist und Materie.

Die Parallele zwischen Goethe und Merlin wurde bereits im 19. Jahrhundert gezogen. Wilhelm Dilthey etwa bezeichnet Goethe als „Magier des Lebens“, dessen Dichtung „die Natur selbst zur Sprache bringt“[3]. Damit erscheint Goethe als Fortsetzer der Linie, die Schlegel poetisch-theologisch begründet hatte: die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Poesie in der Gestalt des schöpferischen Menschen.

[2] Goethe: Die Geheimnisse, in: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 1.2, München 1987, S. 341–349.
[3] Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906, S. 121.


5. Der Hexenkult als Gegenmythos zur Kirche in Faust I

In der berühmten Walpurgisnacht des ersten Faust-Teils begegnet der Leser einem der vielschichtigsten Symbole der europäischen Literatur: dem Hexensabbat als Umkehrung der christlichen Liturgie. Doch Goethe führt diese Szene nicht bloß als Spott auf kirchliche Moral ein. Vielmehr verbirgt sich darin ein Gegenmythos, der an ältere, vorchristliche und naturmagische Vorstellungen anschließt.

Der Hexenkult repräsentiert in Goethes Deutung eine unterdrückte Religiosität der Erde. Die Hexen tanzen nicht gegen Gott, sondern gegen die Entfremdung des Göttlichen durch Institution und Dogma. Damit steht der Brocken-Sabbat in einer Linie mit der romantischen Rückkehr zum Heidnischen – einer Rückkehr, die auch Schlegels „neue Religion“ vorbereitet.

In dieser Perspektive erscheint Fausts Teilnahme am Hexensabbat als Initiation in eine alternative Theologie: eine Religion der Naturkräfte, des Dionysischen, des Weiblichen. Faust ist damit kein Dämon, sondern ein Schüler der alten Mysterien, die im Schatten des Christentums überdauert haben.

Goethe stellt somit den Hexenkult als komplementären Aspekt der göttlichen Ordnung dar: das Nachtgesicht der Schöpfung, das die Kirche verdrängt hatte. Hier wird eine Brücke geschlagen zu den „Old Craft“-Vorstellungen moderner okkulter Strömungen, in denen der Hexensabbat als Symbol der uralten, vorchristlichen Weisheit gedeutet wird.


6. Die Urmütter und die alchemisch-gnostische Dimension in Faust II

Die Szene der Urmütter in Faust II (V. 6215 ff.) ist eines der geheimnisvollsten Kapitel der Weltliteratur. Goethe führt hier eine mythische Tiefenschicht ein, die über Religion und Mythologie hinausreicht. Die Urmütter sind „das Ewige, das sich selbst gebiert“, reine Potenz und schöpferischer Schoß aller Erscheinung.

In dieser Szene erreicht Goethes Symbolik eine gnostische Dichte. Faust steigt – geführt von Mephistopheles – in das Reich der Urmütter hinab, um die Gestalt der Helena zu beschwören. Diese Reise ist ein Abstieg in die Materie, vergleichbar der nigredo-Phase der Alchemie. Die Urmütter sind zugleich Mater und Matrix, Ursprung und Ziel des alchemischen Werkes.

Hier wird die Idee der Weiblichkeit als Urgrund der Schöpfung ins Zentrum gerückt. Während die Kirche das Weibliche dämonisierte, führt Goethe es als das eigentliche göttliche Prinzip ein – eine theosophische Umwertung, die an Jakob Böhmes „Sophia“ erinnert.

Die Verbindung zwischen Hexenkult und Urmüttern liegt auf der Hand: Beide repräsentieren das verdrängte weibliche Wissen. In der gnostisch-alchemischen Tradition steht die Rückkehr zur „Mutter“ für die Wiedervereinigung von Geist und Natur. Der Magier (Faust) muss in das Dunkel der Urmütter hinabsteigen, um das Göttliche neu zu gebären – eine Initiation, die den Kern der romantischen Theurgie bildet.


7. Das „Kainsmal“ bei Hermann Hesse und die Figur des Ausgestoßenen Weisen

Hermann Hesse, besonders in Demian (1919), greift die romantisch-gnostische Tradition des „verfluchten Wissenden“ wieder auf. Das Kainsmal bezeichnet hier nicht Schuld, sondern Erwählung. Kain ist derjenige, der „die Wahrheit erkannt hat“ und deshalb von der Welt getrennt ist.

In Hesses Deutung steht das Kainsmal für die individuelle Initiation in eine höhere Erkenntnis, die außerhalb der gesellschaftlichen und kirchlichen Ordnung liegt[4]. Der Träger dieses Zeichens ist ein „Erwachter“, dessen Wissen ihn zur Einsamkeit verurteilt – ein Motiv, das sich bereits bei Schlegels Merlin und Goethes Faust findet.

Damit verbindet Hesse die romantische Poetik des Wissens mit einer existenziellen Gnosis: Der Mensch wird zum Eingeweihten, sobald er das Verborgene erkennt – und damit das Stigma des Andersseins trägt. In der okkulten Symbolik entspricht das Kainsmal dem „Siegel des Adepten“, das den Wissenden von den „Schlafenden“ trennt.

[4] Hermann Hesse: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend, Frankfurt a. M. 1974, S. 87 ff.


8. Deutsche Esoteriktraditionen und die Linie zum „Old Craft“ in Children of Cain

Michael Howard beschreibt in Children of Cain (2011) die sogenannten „Old Craft“-Traditionen als Fortführung einer europäischen Linie des naturmagischen Wissens, die sich vom Mittelalter über die Romantik bis ins 20. Jahrhundert zieht. Diese „Alte Kunst“ unterscheidet sich von der modernen Wicca-Bewegung durch ihre Betonung der individuellen Initiation, der Arbeit mit Naturgeistern und der Verehrung der chthonischen Göttin.

Howard verweist explizit auf deutsche Einflüsse – etwa die Harz- und Schwarzwaldregionen, wo die Volksüberlieferung des Brocken-Sabbats, der „Wilden Jagd“ und der „weisen Frauen“ bis in die Neuzeit lebendig blieb[5]. Diese volkstümlichen Strömungen überlagern sich mit der romantischen Esoterik: Schlegels Poetisierung der Magie, Goethes Integration hermetischer Motive, Hesses existenzielle Gnosis.

In dieser Perspektive erscheinen Merlin, Faust und Kain als Gestalten einer gemeinsamen Traditionslinie: Sie repräsentieren den initiierten Einzelnen, der durch Erkenntnis von der Gesellschaft getrennt, aber mit der Natur verbunden ist. Das „Old Craft“ übernimmt genau dieses Paradigma – der Magier als Vermittler zwischen Menschenwelt und Naturgeistern, der außerhalb der kirchlichen Orthodoxie steht.

[5] Michael Howard: Children of Cain. A Study of Modern Traditional Witches, Richmond 2011, S. 24–41.


8a. Sergius Golowin und die Wiederkehr des romantischen Magiers im 20. Jahrhundert

Ein besonderer Vermittler zwischen der Romantik und den modernen „Old Craft“-Strömungen ist der Schweizer Schriftsteller und Mythenforscher Sergius Golowin (1930–2006). In seinen Essays und Erzählungen – etwa Magie der Schwelle (1974), Die Zaubergärten (1982) und Die spirituelle Dimension der Alpen (1986) – verbindet Golowin volksmagische Überlieferungen Mitteleuropas mit der romantischen Mythopoesie.

Golowin sieht in der Romantik den Beginn einer „zweiten Aufklärung“, in der das „vergessene Wissen“ der Erde wiederentdeckt wird[6]. Für ihn sind Goethe, Novalis und Schlegel keine bloßen Literaten, sondern „Eingeweihte einer großen poetischen Magie“. Er nennt Goethe den „Merlin des Abendlands“ und beschreibt Faust als „Mysterienbuch der Natur“ – eine Deutung, die die rosenkreuzerische Lesart des Werks fortschreibt.

Wie die Romantiker betont Golowin die Einheit von Poesie und Magie. In Die Zaubergärten schreibt er:

„Der Magier ist der Dichter, der die Erde versteht, weil er ihre Sprache spricht; und diese Sprache ist die der Bilder.“[7]

Damit schließt er direkt an Schlegels „neue Religion der Poesie“ an. Zugleich verknüpft er dieses Denken mit der Volksüberlieferung der Alpen und des Harzes – jenen Regionen, die Goethe im Faust mythisch überhöhte. Golowin deutet den Brocken und andere „Kraftorte“ als „lebendige Tempel der Alten Kunst“, in denen sich die Natur als numinoses Gegenüber offenbart.

In seiner Nähe zur Hippie- und Alternativkultur der 1960er und 1970er Jahre wird Golowin zu einer zentralen Figur der postromantischen Esoterik. Seine Sicht auf Magie ist dabei weder kirchlich noch satanisch, sondern ökologisch und mythisch: eine Wiedergeburt der romantischen Idee der Naturseele. Damit bildet er die Brücke zwischen Goethe und Howard: Er übersetzt den romantischen Universalismus in eine moderne ökospirituelle Hermetik, die das „Old Craft“ nicht als Kult, sondern als Lebenshaltung versteht.

[6] Sergius Golowin: Magie der Schwelle. München 1974, S. 21.
[7] Sergius Golowin: Die Zaubergärten. Bern 1982, S. 77.


9. Schluss: Die Linie der „Kinder Kains“ – Romantik, Esoterik, Naturmystik

Die Figur des Merlin, die romantische Idee der neuen Religion, Goethes magisch-theurgische Dichtung, Golowins postromantische Mythopoesie und die moderne Esoterik der „Old Craft“-Bewegung bilden eine zusammenhängende geistige Genealogie. Alle diese Strömungen kreisen um dasselbe Grundmotiv: die Wiederherstellung der Einheit von Mensch, Natur und Göttlichem.

Schlegels „neue Religion“ erhebt den Dichter zum Priester einer kosmischen Poesie; Merlin verkörpert diese Priesterschaft in mythischer Form. Goethe transformiert sie in das Drama des modernen Wissenden, der – wie Faust – durch Schuld zur Erkenntnis gelangt. Der Hexenkult und die Urmütter stehen dabei für die verdrängten Mächte der Natur, die in der Esoterik wieder rehabilitiert werden.

Hesses „Kainsmal“ und Golowins „Magie der Erde“ markieren die innere Konsequenz dieser Linie: Der Wissende trägt das Zeichen des Ausschlusses, weil seine Erkenntnis ihn über die Grenzen der Institutionen hinausführt. In den „Old Craft“-Traditionen lebt dieses Motiv fort – als Mysterium des Einzelnen, der sich der Natur als heiliger Ganzheit anvertraut.

Die deutsche Romantik erweist sich somit nicht nur als literarische Bewegung, sondern als okkult-philosophische Schwelle: eine Erneuerung des abendländischen Mysterienbewusstseins in der Sprache der Poesie. In ihr liegt die Wurzel jener Strömungen, die im 20. und 21. Jahrhundert unter dem Namen der „Children of Cain“ weiterexistieren – Hüter eines Wissens, das, wie Schlegel es forderte, Poesie und Religion in einem neuen Mythos vereint.

Literaturverzeichnis

  • Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906.
  • Goethe, Johann Wolfgang von: Die Geheimnisse, in: Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 1.2, München 1987.
  • Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. München 1988.
  • Hesse, Hermann: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Frankfurt a. M. 1974.
  • Howard, Michael: Children of Cain. A Study of Modern Traditional Witches. Richmond 2011.
  • Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. München 1958.
  • Böhme, Jakob: Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Amsterdam 1682.
  • Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1960.