Göttin und Gott als Sinnbilder der Pole – Ein wiccanisch-hermetischer Zugang

In der Religionsphilosophie des Wicca bilden Göttin und Gott nicht primär ein pantheistisches Götterpaar im mythologischen Sinne, sondern auch symbolische Pole des Seins. Diese Betrachtungsweise nähert sich der hermetischen Tradition, dem Daoismus und der Pansophie – und erlaubt, Wicca als ein philosophisches System zu lesen, das zyklische Polarität, Wandlung und Ganzheit in den Mittelpunkt stellt.

1. Die polare Struktur des Wicca

Wicca kennt eine dynamische Grundstruktur:

  • Die Göttin repräsentiert Werden, Wandlung, Immanenz, Materie, Nacht, Wasser, Fruchtbarkeit, Empfang.
  • Der Gott repräsentiert Ausdehnung, Kraft, Bewegung, Sonne, Feuer, Handlung, Auflösung.

Diese Zuschreibungen sind keine absoluten metaphysischen Qualitäten, sondern funktionale Pole, die sich wechselseitig bedingen und transformieren.

Damit entspricht der Dualismus der beiden Gottheiten einem prozesshaften Polaritätsmodell, das näher an Yin und Yang liegt als an einem starren Dualismus „weiblich/männlich“.

Analogien zum Yin–Yang-Prinzip

  • Yin (dunkel, empfangend, innen) ↔ Göttin – aber nicht „rein weiblich“, sondern ein Prinzip.
  • Yang (hell, aktiv, außen) ↔ Gott – wieder als Prinzip, nicht als biologisches Geschlecht.

Wie im Daoismus entstehen alle Phänomene erst aus der Interaktion dieser Pole; sie sind komplementär, niemals gegensätzlich.

Hermetischer Bezug – Rhythmus, Geist und Polarität

Das Kybalion formuliert drei Prinzipien, die hier direkt korrespondieren:

  • Prinzip der Polarität: „Alles ist zweifach.“
  • Prinzip des Rhythmus: „Alles fließt, alles hat seine Gezeiten.“
  • Prinzip des Geschlechts: „Geschlecht ist in allem.“

Diese Prinzipien tauchen im Wicca nicht als metaphysische Postulate auf, sondern als erlebte rituelle Praxis: Jahreskreis, Mondzyklen, Aufbauen und Entladen von magischer Energie, Wechsel der Jahresgottheit.

Der Jahreskreis konkretisiert gewissermaßen die hermetische Philosophie.


2. Der Jahreskreis als „Rhythmus der Pole“

Die acht Jahresfeste des Wicca sind keine bloßen Feiern, sondern dramatische Pole im Jahres-Rhythmus, im Sinne des hermetischen Prinzips des Rhythmus.

Sie bilden:

  • Zunahme ↔ Abnahme
  • Licht ↔ Dunkel
  • Aufstieg ↔ Rückzug
  • Aktivierung ↔ Ruhe

Das Jahresrad ist somit das bewegte Diagramm der Polarität. Genau hier liegt der Anschluss an Bardon, der die Religion eines Magiers als bewusste, rituell gelebte Erkenntnis des kosmischen Rhythmus beschreibt.

Für Bardon ist Religion in ihrer höchsten Form eine Schulung des Bewusstseins, das die Polaritäten erkennt, harmonisiert und in sich zur Deckung bringt.
Der Jahreskreis ist dafür das wiccanische Schulungsmodell.


3. Die pansophische Dimension

Die Pansophie – besonders in ihrer romantisch-deutschen Ausprägung (Schlegel, Novalis, Oetinger, später auch die theosophische Rezeption) – kennt die Idee, dass alle Weltordnungen analog aufgebaut sind: Natur, Geist, Geschichte, Seele. Alles ist makro-mikrokosmisch verschränkt.

In diesem Sinne sind Göttin und Gott im Wicca kein isoliertes Mythologem, sondern archetypische Verdichtungen der Weltstruktur:

  • Die Göttin entspricht in pansophischer Terminologie dem „Weltgrund“, der in sich Vielfalt trägt (Schlegels „Chaos, das schöpferisch ist“).
  • Der Gott entspricht der Formkraft, die aus diesem Grund Gestalt werden lässt.

Hier verbinden sich Daoismus, Hermetik und Pansophie:

  • Daoismus: Yin und Yang als bewegte Urpolaritäten.
  • Hermetik: Osiris/Isis, Chokmah/Binah, Sulfur/Mercur.
  • Pansophie: UngrundGrund, AmeisungEntfaltung, InnerlichkeitGestalt.

Wicca überführt diese philosophischen Modelle in ein diskursives Ritualsystem, das die Polaritäten nicht bloß beschreibt, sondern verkörpert.


4. Wicca als religionsphilosophisches Idealmodell

Wenn man Wicca nicht als „traditionelle Religion“, sondern als philosophische Ritualpraxis liest, entsteht ein Idealmodell:

  1. Polarität erkennen → die beiden göttlichen Prinzipien bewusst verstehen.
  2. Rhythmus leben → in Festen, Jahreszeiten, Mondphasen, im eigenen psychischen Prozess.
  3. Ganzheit erfahren → die Vereinigung der Pole im Bewusstsein, nicht nur im Mythos.

Damit erfüllt Wicca genau das Ideal, das Bardon formuliert:
Eine Religion des Magiers ist die bewusste, methodische Teilnahme an der morphischen Struktur des Kosmos.

Das Paar Göttin/Gott ist dafür ein operatives Symbol – ein Werkzeug der inneren Alchemie.


5. Fazit: Göttin und Gott als dynamisches Symbolsystem

Göttin und Gott im Wicca können religionsphilosophisch verstanden werden als:

  • Prozesshafte Pole, keine dualistischen Gegensätze
  • Komplementäre Energien, wie Yin und Yang
  • Hermetische Prinzipien, die den Rhythmus des Universums ausdrücken
  • Pansophische Archetypen, die die Struktur des Seins abbilden
  • Psychologische Kräfte, die im Menschen selbst wirken
  • Rituelle Koordinaten, die den Jahreskreis strukturieren

Damit ist das Gottesbild des Wicca zugleich mythologisch, metaphysisch, psychologisch und praktisch – ein universelles Symbolpaar, das die Harmonie der Gegensätze feiert.

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