1. Schlegels transzendentale Vielheit des Ich
In seiner Transzendentalphilosophie (1799) beschreibt Friedrich Schlegel das Ich als ein System unendlicher Tätigkeiten. Das Subjekt ist kein fixer Punkt, sondern ein lebendiges Geflecht schöpferischer Kräfte, das in sich das Universum widerspiegelt.
„Das Ich ist kein Punkt, sondern eine unendliche Tätigkeit, ein Organismus von Kräften, in welchem das Absolute sich selbst erkennt.“
— Friedrich Schlegel, Transzendentalphilosophie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), hrsg. von Ernst Behler, Bd. 12, Paderborn: Schöningh, 1964, S. 85 ff.
Schlegel deutet die mythologische Götterwelt als Symbol dieser inneren Vielfalt:
„In jedem Menschen wohnt eine eigene Mythologie, eine eigene Gottheit; nur der Poet erkennt sie und bringt sie hervor.“
— Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, Nr. 116, in: KFSA, Bd. 2, Paderborn: Schöningh, 1958, S. 182.
Damit wird das antike Pantheon zum Sinnbild der psychischen Pluralität. Die Seele erscheint als ein „inneres Pantheon“, bevölkert von Kräften, die einander widersprechen und zugleich harmonieren – das romantische „Gewimmel der Götter“, das sich im Inneren spiegelt.
2. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten
Der Analytiker C. G. Jung formuliert im 20. Jahrhundert eine verwandte Struktur, jedoch im psychologischen Kontext. In seinem Werk Archetypen und das kollektive Unbewusste beschreibt er die Seele als geschichtet:
- das Bewusste Ich,
- das persönliche Unbewusste,
- und das kollektive Unbewusste, das „die ganze geistige Erbschaft der Menschheit“ enthält.
„Das kollektive Unbewusste ist die Schicht der Psyche, welche die ganze geistige Erbschaft der Menschheit birgt, die in jedem Einzelnen neu geboren wird.“
— C. G. Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, Gesammelte Werke (GW 9/1), Zürich: Rascher, 1954, § 3.
Die archetypischen Figuren – Anima, Schatten, Selbst, Mutter, Held – sind nach Jung universale psychische Muster, die sich in Mythen, Religionen und Träumen manifestieren. Diese Archetypen entsprechen funktional Schlegels inneren „Göttern“: beides sind Ausdrucksformen eines transpersonalen, schöpferischen Unbewussten.
3. Strukturelle Parallelen zwischen Schlegel und Jung
Aspekt | Friedrich Schlegel | C. G. Jung |
---|---|---|
Rahmen | Transzendentalphilosophie (Idealismus / Frühromantik) | Analytische Psychologie (Tiefenpsychologie) |
Seelenstruktur | Das Ich als Vielheit von Kräften (inneres Pantheon) | Die Psyche als Struktur aus Bewusstem und kollektivem Unbewussten |
Symbolform | Göttermythen als Ausdruck innerer Prinzipien | Archetypen als universale seelische Bilder |
Funktion | Poetische Selbstreflexion, ästhetische Erkenntnis | Individuation, Integration des Unbewussten |
Ziel | Einheit in der Vielheit des Ich (romantische Synthese) | Ganzwerdung durch Bewusstwerdung des Selbst |
4. Philosophisch-psychologische Interpretation
Beide Modelle beruhen auf der Einsicht, dass Mythos und Psyche strukturell identisch sind.
- Bei Schlegel ist der Mythos die poetische Sprache der Vernunft, die das Absolute symbolisch ausdrückt.
- Bei Jung ist der Archetyp die symbolische Sprache des Unbewussten, die sich in Bildern und Religionen manifestiert.
So verstanden, sind die Götter weder bloß Projektionen noch übernatürliche Wesen, sondern psychische Organe — Gestalten einer inneren Dynamik, durch die das Selbst sich erkennt.
Jung macht damit empirisch-psychologisch greifbar, was Schlegel romantisch-transzendental ahnte:
das Göttliche im Inneren des Menschen, die kosmische Selbstreflexion im Ich.
5. Fazit
Schlegels „Gewimmel der Götter im Pantheon“ ist eine philosophische Vorahnung von Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten.
Beide begreifen die Seele als universale Totalität, in der sich das All spiegelt.
Wo Schlegel poetisch sagt:
„Das Gewimmel der Götter im Pantheon spiegelt das Gewimmel meiner Seele,“
da würde Jung psychologisch formulieren:
„Die Archetypen des kollektiven Unbewussten sind die ewigen Bewohner der menschlichen Seele.“
Quellenverzeichnis
Primärquellen
- Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, hrsg. von Ernst Behler, Paderborn: Schöningh, 1958.
- Schlegel, Friedrich: Transzendentalphilosophie (Kölner Vorlesungen 1799), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 12, hrsg. von Ernst Behler, Paderborn: Schöningh, 1964.
- Jung, C. G.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, Gesammelte Werke, Bd. 9/1, Zürich: Rascher, 1954.
Sekundärquellen
4. Behler, Ernst: Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie, Paderborn: Schöningh, 1972.
5. Henrich, Dieter: Konstellationen: Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie, Stuttgart: Klett-Cotta, 1991.
6. Jung, C. G.: Psychologie und Alchemie, Gesammelte Werke, Bd. 12, Zürich: Rascher, 1952.
7. Wehr, Gerhard: C. G. Jung: Leben, Werk, Wirkung, München: dtv, 1985.
8. Safranski, Rüdiger: Romantik – Eine deutsche Affäre, München: Hanser, 2007.