Im Gegensatz zur Anthroposophie Rudolf Steiners, die in weiten Teilen auf einer hierarchischen, esoterisch abgeschlossenen Weltsicht beruht, repräsentieren sowohl das Wicca-Hexenwesen – wie es Michael Howard in Children of Cain (2011) beschreibt – als auch das von Friedrich Schlegel inspirierte Merlin-Bild eine offene, naturverbundene und wissenschaftsaffine Spiritualität.
1. Wicca und der Geist des freien Wissens
Michael Howard stellt in Children of Cain: A Study of Modern Traditional Witchcraft die Hexen nicht als bloße Relikte vorchristlicher Kulte dar, sondern als Träger eines lebendigen, forschenden Bewusstseins: einer Mystik, die mit der Natur und dem Geist gleichermaßen experimentiert. Wicca ist in diesem Sinne kein rückwärtsgewandter Kult, sondern eine spirituelle Avantgarde, die ökologische Ethik mit erkenntnistheoretischer Neugier verbindet. Der „Hexenweg“ wird hier zu einer Initiation in das Bewusstsein der Natur, das sich nicht in Dogmen erschöpft, sondern empirisch, symbolisch und psychologisch zugleich erfahrbar ist.
Diese Haltung steht der modernen Wissenschaft näher, als gemeinhin angenommen wird: Wicca ist offen für Astronomie, Ökologie, Tiefenpsychologie und Quantenphysik – es sucht den Einklang zwischen intuitivem Wissen und rationaler Erforschung der Welt. So entsteht eine neue Form von ökologischer Gnosis, die dem Menschen seine Verantwortung im solaren, planetarischen Zusammenhang bewusst macht.
2. Schlegels Merlin: Der ekstatische Wissenschaftler
Friedrich Schlegels Idee eines neuen „Merlin“ – eines ekstatischen Mystikers, der zugleich Forscher und Dichter ist – bildet ein romantisches Gegenbild zur asketisch-abgeschlossenen Spiritualität der anthroposophischen Welt. Der Merlin des Schlegelschen Denkens ist kein Hierarch, sondern ein Vermittler: Er verbindet Natur und Geist, Vernunft und Ekstase, Empirie und Mythos. In ihm verschmelzen der Dionysische und der Apollinische Pol, die Friedrich Nietzsche später als Urkräfte der Kreativität benennen sollte.
Diese Figur ist der Archetyp des „freien Magiers“ – jener, der Erkenntnis sucht, ohne sie in Systeme zu zwängen. Sie steht in enger Resonanz mit Howards Darstellung der „Cunning Craft“: einer Magie des Handelns, Forschens und Erfahrens, die den Menschen als Teil der Natur begreift – nicht als ihr Erzieher.
3. Die Schatten der Anthroposophie
Rudolf Steiner hingegen entwickelt in Schriften wie Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910) und Theosophie (1904) ein hierarchisches Modell der geistigen Entwicklung, das auf alten theosophischen und rassentheoretischen Konzepten beruht. Seine Lehre unterscheidet „Rassen“ und „Wurzelrassen“ mit angeblich unterschiedlichen spirituellen Fähigkeiten – ein Gedankengut, das heute mit Recht als rassistisch bewertet wird.
Zudem zeigt sich in Steiners System eine deutliche Wissenschaftsfeindlichkeit: Er lehnt die empirische Methode ab und ersetzt sie durch „hellseherische Erkenntnisformen“, die keiner kritischen Prüfung zugänglich sind. Die Anthroposophie postuliert damit eine geistige Elite, die „Eingeweihten“ vorbehalten ist – während Wicca, Schlegels Merlin und die solarpunkhafte Spiritualität des 21. Jahrhunderts die Erkenntnis allen Menschen zugänglich machen wollen.
4. Wissenschaft, Magie und Freiheit
Im Kern liegt der Unterschied also im Verhältnis zur Freiheit des Denkens: Wicca und Schlegels Hermetik sind experimentelle Wege – sie erkennen Wissenschaft und Magie als zwei Sprachen derselben Neugier, als Tanz von Geist und Materie. Steiners Anthroposophie dagegen bleibt eine hierarchische Esoterik, die den individuellen Erkenntnisakt durch ein geschlossenes metaphysisches System ersetzt.
Damit wird das Hexenwesen im Sinne von Howards Children of Cain – ebenso wie Schlegels Merlin – zu einem Symbol für jene neue, offene Spiritualität, die mit wissenschaftlichem Geist, ökologischer Verantwortung und mystischer Erfahrung eine ganzheitliche Kultur des Wissens erschafft.
Literaturhinweise:
- Michael Howard: Children of Cain: A Study of Modern Traditional Witchcraft. Three Hands Press, 2011.
- Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Ausgabe, Bd. 2. München, 1958.
- Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13, 1910.
- Rudolf Steiner: Theosophie. GA 9, 1904.
- Zur Kritik an Steiners Rassenlehre: Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.