Gnosis und Kapitalismus: Der Demiurg der modernen Welt

Ein theologischer Versuch über Befreiung, Bewusstsein und Klassenkampf


1. Der Demiurg als Struktur der Entfremdung

In der klassischen Gnosis wird die Welt nicht von einem höchsten Gott, sondern von einem Demiurgen geschaffen – einem „Baumeister“, der die Materie formt, aber die geistige Fülle (pleroma) nicht kennt. Im Apokryphon des Johannes heißt es über ihn:

„Und er sprach: Ich bin Gott, und es gibt keinen anderen neben mir.“
Da lachte Sophia, denn sie wusste, dass er in Unwissenheit sprach.¹

Dieser Demiurg – eine Gestalt des Unwissens und der Hybris – ist zum Symbol einer verkehrten Schöpfung geworden, in der Macht und Materie den Geist verdecken.
In der Neuzeit, so die These dieses Essays, hat der Demiurg seine Gestalt geändert:
Er ist zum Kapitalismus geworden – zu einem System, das das Leben in Ware verwandelt und die Welt als Maschine begreift.

Karl Marx beschreibt in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) die Entfremdung des Arbeiters als Verlust seines eigenen Wesens:

„Je mehr der Arbeiter produziert, desto weniger hat er zu konsumieren; je mehr Werte er schafft, desto mehr verliert er an Wert.“²

Der Demiurg des Kapitalismus schafft eine Welt der toten Formen, in der das Lebendige zur Funktion erstarrt.
Er ist ein schöpferischer Nicht-Schöpfer – produktiv im Äußeren, leer im Inneren.
Sein Werk ist die Welt des Warenfetischismus, in der, wie Marx schreibt, „die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen als Verhältnisse von Sachen erscheinen“³ – eine ontologische Täuschung, die gnostisch gelesen werden kann als kosmische Verblendung.


2. Die Archonten als kapitalistische Tugenden

Die Archonten der gnostischen Schriften sind die Mächte, die die Seele an die materielle Welt binden.
Sie verkörpern Leidenschaften, Strukturen und Zwänge – kurz: die „Verwalter“ der Entfremdung.
In der modernen Welt erscheinen diese Archonten in säkularer Form als die kapitalistischen Tugenden, die das Bewusstsein kolonisieren:

ArchonKapitalistische EntsprechungWirkung
JaldabaothProduktivismusZwang zur Schöpfung ohne Sinn
SabaothEffizienzReduktion des Lebens auf Berechenbarkeit
AstaphaiosKonkurrenzSpaltung und Selbstverlust
YaoEigentumFixierung des Seins im Haben
EloaiosKonsumErstickung des Begehrens durch Überfülle

Diese Archonten wirken als psychische und gesellschaftliche Strukturen zugleich.
Der Kapitalismus ist damit kein bloß ökonomisches System, sondern eine metaphysische Matrix, in der Bewusstsein, Arbeit und Natur in Hierarchien der Macht gebunden sind – das, was Adorno und Horkheimer „die verdinglichte Vernunft“ nannten⁴.


3. Gnosis als Klassenkampf des Bewusstseins

Die Gnosis ist Erkenntnis – gnōsis – im Sinne eines inneren Erwachens.
Sie ist kein rein intellektueller Vorgang, sondern ein Akt der Befreiung aus der Welt des Scheins.

Im Evangelium der Wahrheit heißt es:

„Unwissenheit ist die Mutter aller Übel. Wenn man die Wahrheit erkennt, wird die Wahrheit frei machen.“⁵

Hier liegt eine tiefe strukturelle Nähe zur marxistischen Dialektik:
Wie Marx die Geschichte als Prozess der Selbstbefreiung der Menschheit begreift, so sieht die Gnosis das Kosmosdrama als Selbstbefreiung des Geistes.

Der Klassenkampf ist daher zugleich äußere und innere Gnosis:

  • Äußerlich: die Aufhebung der ökonomischen Knechtschaft.
  • Innerlich: die Überwindung der mentalen und emotionalen Knechtschaft der Archonten.

In beiden Fällen geht es um Bewusstsein.
Wie Lukács schreibt:

„Das Bewusstsein der Totalität ist der eigentliche revolutionäre Akt.“⁶

Die Revolution, verstanden gnostisch, ist eine Erkenntnisrevolution – eine Metanoia, die die Herrschaft des Demiurgen durchbricht.


4. Der Mensch als Mikrokosmos des Kampfes

In der gnostischen Anthropologie enthält der Mensch einen „göttlichen Funken“ (pneuma), der in der Welt der Materie gefangen ist.
Dieser Funke ist identisch mit dem menschlichen Bewusstsein – jener Instanz, die sich selbst erkennen kann.

Franz Bardon beschreibt im Weg zum wahren Adepten (1956) denselben Prozess alchemisch:

„Wer die Elemente in sich zu meistern versteht, löst den Schleier, der ihn von Gott trennt.“⁷

Das Gnostische und das Hermetische fallen hier zusammen: Befreiung bedeutet, die Kräfte der Welt zu erkennen und zu verwandeln.
In marxistischer Sprache: den Produktionsprozess des Lebens wieder bewusst zu gestalten.

Der Mensch ist der Mikrokosmos der Dialektik:
Die Umwälzung der Welt beginnt in der Innerlichkeit der Erkenntnis.


5. Die Apokatastasis – Wiederherstellung der Welt

Das Ziel der Gnosis ist nicht Flucht, sondern Apokatastasis – die Wiederherstellung des göttlichen Ursprungs in der Welt.
Diese Idee findet ihr säkulares Echo in Marx’ Vision des „Reichs der Freiheit“ – einer Gesellschaft, in der das Bewusstsein sich seiner selbst und seiner Welt bewusst ist.

Wie es in der Pistis Sophia heißt:

„Die Welt wird erlöst, wenn der Mensch das Licht in sich erkennt und das Dunkel wandelt.“⁸

Gnosis und Dialektik sind zwei Sprachen derselben Befreiung:
Die eine spricht vom Geist, die andere von der Materie – beide aber zielen auf Ganzheit.

Die Erkenntnis des Gnostikers ist die Bewusstwerdung des Proletariats:
das Durchbrechen der Illusion des Fremden, des Äußeren, des Anderen.
Denn wie Marx schrieb:

„Der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“⁹


6. Schluss: Der Demiurg als letztes Stadium des Bewusstseins

Der Kapitalismus ist die letzte Metamorphose des Demiurgen – die endgültige Veräußerlichung des Geistes in Materie.
Doch diese äußerste Entfremdung ist zugleich der Punkt des Erwachens:
Wo die Herrschaft total wird, beginnt die Erkenntnis ihrer Nichtigkeit.

Die Gnosis der Gegenwart ist die Erkenntnis, dass Befreiung nicht jenseits, sondern innerhalb der Welt geschieht.
So wird der Klassenkampf zur Liturgie der Erde, die Revolution zum Sakrament der Bewusstwerdung.

„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“
(Lk 17,21)


📚 Literaturverzeichnis

  1. Apokryphon des Johannes, in: Nag-Hammadi-Codices I–XIII, hrsg. v. H.-M. Schenke, Leiden: Brill 1981.
  2. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW Bd. 40, Berlin: Dietz 1968.
  3. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW Bd. 23, Berlin: Dietz 1962.
  4. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam: Querido 1947.
  5. Evangelium der Wahrheit, in: Nag-Hammadi-Schriften, hrsg. v. Hans-Gebhard Bethge, München: Beck 1997.
  6. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin: Malik 1923.
  7. Bardon, Franz: Der Weg zum wahren Adepten, Wuppertal: Bauer 1956.
  8. Pistis Sophia, hrsg. v. Carl Schmidt, Leipzig: Hinrichs 1925.
  9. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, Berlin: Dietz 1969.

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